Der hörenswerte Spektrum der Wissenschaft-Podcast sendete letztens eine Folge über den „Vitamin D Mythos„. Der Beitrag hat uns dazu angeregt, in die Recherche einzusteigen. Das Thema „Vitamin D“ ist offenbar kontroverser als wir es für möglich gehalten haben – wir werden jedenfalls einen unserer langen Artikel über, unter anderem Vitamin D, umschreiben beziehunsgweise ergänzen müssen. Wenn du diesen Artikel gelesen hast, weißt du warum. Also, los gehts!
Du hast es sicher schon gehört: „Im Winter solltest du unbedingt Vitamin D einnehmen!“ oder „Fast jeder in Deutschland hat einen Vitamin-D-Mangel!“ Solche Aussagen begegnen uns heute überall – in sozialen Medien, in Zeitschriften und sogar im Gespräch mit Freunden und Familie. Doch wie viel Wahrheit steckt tatsächlich hinter diesem weit verbreiteten Glauben an den allgegenwärtigen Vitamin-D-Mangel?
Seiteninhalte
- 1 Der Vitamin-D-Hype: Warum alle davon sprechen
- 2 Was ist Vitamin D überhaupt?
- 3 Die Geschichte des Vitamin D: Von Rachitis zur Massenanreicherung
- 4 Vitamin-D-Mangel in Deutschland: Wie verbreitet ist er wirklich?
- 5 Ein Streit unter Experten: Was ist ein Vitamin-D-Mangel?
- 6 Die natürliche Vitamin-D-Versorgung: Dein Körper kann es selbst!
- 7 Wann eine Supplementierung sinnvoll sein kann
- 8 Die Gefahren einer Überdosierung
- 9 Die VITAL-Studie: Ein Durchbruch in der Vitamin-D-Forschung
- 10 Vitamin-D-Mangel: Wann solltest du wirklich besorgt sein?
- 11 Fazit: Ein ausgewogener Blick auf Vitamin D
Der Vitamin-D-Hype: Warum alle davon sprechen
Seit den 2000er Jahren hat sich ein regelrechter Hype um Vitamin D entwickelt. Die Vorstellung, dass ein Großteil der Bevölkerung unter einem Mangel leidet, hat dazu geführt, dass Vitamin-D-Präparate zu einem Milliardengeschäft geworden sind. Laut einer europäischen Verbraucherstudie hat inzwischen fast die Hälfte (46%) der Befragten innerhalb des letzten Jahres ein Vitamin-D-Präparat eingenommen, womit es zu den am häufigsten konsumierten Nahrungsergänzungsmitteln zählt.
Dabei schreibt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung auf ihrer Seite:
„Da bei einem Großteil der gesunden deutschen Bevölkerung nicht von einem Vitamin-D-Mangel auszugehen ist, sollte die Bestimmung der Vitamin-D-Versorgung nur bei begründetem Verdacht auf eine Mangelsituation oder bei Risikopersonen erfolgen.“ [Quelle]
Trotzdem scheint ein großer Teil der Bevölkerung der Überzeugung zu sein, unter einem Vitamin D Mangel zu leiden. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Studien veröffentlicht, die einen Zusammenhang zwischen niedrigen Vitamin-D-Spiegeln und verschiedenen Krankheiten herstellten. Das Problem: Bei den meisten dieser Studien handelte es sich um Beobachtungsstudien, die lediglich Korrelationen, aber keine Kausalitäten nachweisen konnten.
Was ist Vitamin D überhaupt?
Bevor wir tiefer einsteigen, sollten wir verstehen, was Vitamin D eigentlich ist. Entgegen der landläufigen Meinung ist Vitamin D gar kein klassisches Vitamin, sondern eher ein Prohormon. Es handelt sich um eine Gruppe fettlöslicher Substanzen, die für den Kalziumstoffwechsel und damit für den Aufbau und Erhalt gesunder Knochen essentiell sind.
Vitamin D ermöglicht die Aufnahme und Einlagerung von Kalzium und Phosphor, was nicht nur für den Knochenaufbau, sondern auch für zelluläre Signalprozesse im ganzen Körper notwendig ist. Zudem gibt es Hinweise auf eine bedeutende Rolle für das Immunsystem.
Die Geschichte des Vitamin D: Von Rachitis zur Massenanreicherung
Die Geschichte des Vitamin D ist eng mit der industriellen Revolution verbunden. Im 19. Jahrhundert litten viele Kinder in den rasch wachsenden Städten Europas und Nordamerikas an Rachitis – einer Erkrankung, die zu Knochenverformungen führt. Die Ursache lag in den engen, dunklen Gassen und der oft smogverhangenen Luft, die einen Mangel an Sonnenlicht und damit an Vitamin D verursachte. (Du weißt ja nun, dass Vitamin D für die Einlagerung und den Stoffwechsel von Kalzium und damit für den Knochenaufbau zuständig ist.)
Ein Durchbruch in der Vitamin-D-Forschung gelang in den 1920er Jahren. Der deutsche Wissenschaftler Adolf Windaus erhielt 1928 den Nobelpreis für Chemie für seine Arbeit zur Vitamin-D-Produktion durch Sonnenlicht.
Bereits in den 1920er und 1930er Jahren begann man, Lebensmittel mit Vitamin D anzureichern. Eine interessante Anekdote: 1936 brachte eine amerikanische Brauerei sogar ein „Sunshine Vitamin D“-Bier auf den Markt, das als besonders gesundheitsfördernd beworben wurde. Die Anreicherung von Milch mit Vitamin D – indem man Milch mit UV-Licht bestrahlte – führte schließlich zum fast vollständigen Verschwinden der Rachitis in den Industrieländern.
Heute wird Vitamin D für die Anreicherung von Lebensmitteln häufig aus bestrahltem Lanolin (einem Talgdrüsensekret von Schafen) gewonnen. Natürliche Quellen für Vitamin D sind vor allem fettreiche Fische wie Lachs und Thunfisch.
Vitamin-D-Mangel in Deutschland: Wie verbreitet ist er wirklich?
Die Frage, wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich unter einem Vitamin-D-Mangel leiden, ist nicht so einfach zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Schätzungen schwanken erheblich – von 15% bis zu 90% der Bevölkerung.
Laut einer großen Studie des Robert Koch-Instituts (DEGS1) sind etwa 30,2% der erwachsenen Deutschen mangelhaft mit Vitamin D versorgt. Andere Quellen sprechen von deutlich höheren Zahlen, besonders in den Wintermonaten. So hatten in der DEGS-Studie mehr als 60% der Frauen im Sommer einen Vitamin-D-Spiegel über 50 nmol/l, im Winter dagegen nur etwa 20%.
Diese widersprüchlichen Angaben werfen eine wichtige Frage auf: Wie wird ein Vitamin-D-Mangel überhaupt definiert?
Ein Streit unter Experten: Was ist ein Vitamin-D-Mangel?
Im Jahr 2011 kam ein Expertengremium des Institute of Medicine (IOM) zu dem Schluss, dass die knochenstärkende Wirkung von Vitamin D bei einem Serumwert von 12-20 ng/ml (30-50 nmol/l) ein Plateau erreicht. Werte über 20 ng/ml bringen demnach keinen zusätzlichen Nutzen für die Knochengesundheit. Das Gremium stellte außerdem fest, dass die meisten Menschen ausreichende Vitamin-D-Werte haben.
Fast zeitgleich veröffentlichte die Endocrine Society jedoch Leitlinien, die Serumwerte unter 20 ng/ml als Mangel und Werte zwischen 20-29 ng/ml als unzureichend einstuften. Diese unterschiedlichen Empfehlungen führten zu erheblicher Verwirrung in der medizinischen Gemeinschaft und bei Verbrauchern.
In Deutschland definiert das Robert Koch-Institut einen Vitamin-D-Mangel bei Werten unter 12 ng/ml (30 nmol/l), während Werte zwischen 12-20 ng/ml (30-50 nmol/l) als suboptimal gelten. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) nennt einen wünschenswerten Vitamin-D-Spiegel von mindestens 20 ng/ml (50 nmol/l).
Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Grenzwerte nicht in Stein gemeißelt sind und sich mit neuen Forschungsergebnissen weiterentwickeln. Im Jahr 2024 hat die Endocrine Society ihre Leitlinien überarbeitet und empfiehlt nun, dass gesunde Erwachsene unter 75 Jahren die vom Institute of Medicine empfohlene Tagesdosis an Vitamin D nicht überschreiten sollten.
Die natürliche Vitamin-D-Versorgung: Dein Körper kann es selbst!
Was viele nicht wissen: Der menschliche Körper ist ein wahres Wunderwerk, wenn es um die Vitamin-D-Produktion geht. Er kann 80-90% des benötigten Vitamins selbst herstellen – und das ganz natürlich durch Sonnenlichtexposition.
Wenn UV-B-Strahlen auf deine Haut treffen, wird aus 7-Dehydrocholesterol, einer Vorstufe des Cholesterins, Vitamin D3 (Cholecalciferol) gebildet. Dieses wird in der Leber und anschließend in den Nieren zu seiner aktiven Form, dem 1,25-Dihydroxyvitamin D, umgewandelt.
Wie viel Sonnenlicht brauchst du für eine ausreichende Vitamin-D-Produktion? Das Bundesamt für Strahlenschutz gibt eine einfache Faustregel: Es genügt, Gesicht, Hände und Arme unbedeckt und ohne Sonnenschutz zwei- bis dreimal pro Woche der Hälfte der minimalen sonnenbrandwirksamen UV-Dosis (0,5 MED) auszusetzen. Das entspricht in etwa der Hälfte der Zeit, in der du sonst einen Sonnenbrand bekommen würdest.
In den Sommermonaten reicht also oft schon ein kurzer Spaziergang aus, um deinen Vitamin-D-Bedarf zu decken. Die genaue Zeit variiert je nach:
- Hauttyp (hellere Haut produziert schneller Vitamin D)
- Tageszeit (die UV-Strahlung ist mittags am intensivsten)
- Jahreszeit (im Sommer ist die UV-Strahlung stärker)
- Breitengrad (je näher am Äquator, desto intensiver die Sonnenstrahlung)
Im Winter kann es in Deutschland allerdings tatsächlich schwierig sein, ausreichend Vitamin D über die Sonne zu bilden, da die UV-B-Strahlung dann zu schwach ist. Glücklicherweise hat der Körper Speicher für Vitamin D, die für etwa 10-12 Wochen reichen können.
Wann eine Supplementierung sinnvoll sein kann
Es gibt bestimmte Gruppen und Situationen, in denen eine Vitamin-D-Supplementierung tatsächlich sinnvoll sein kann:
- Säuglinge und Kleinkinder: Da ihre Haut noch empfindlich ist und sie oft vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt werden, wird für Säuglinge im ersten Lebensjahr eine tägliche Vitamin-D-Gabe empfohlen.
- Menschen mit bestimmten Erkrankungen: Personen mit Malabsorptionssyndromen wie Morbus Crohn, Mukoviszidose oder Zöliakie können Schwierigkeiten haben, Vitamin D aufzunehmen. Auch bei Leber- und Nierenerkrankungen kann die Vitamin-D-Aktivierung beeinträchtigt sein.
- Patienten nach Magenbypass-Operationen: Diese Eingriffe können die Aufnahme von Vitamin D aus der Nahrung erschweren.
- Menschen mit sehr dunkler Haut: Melanin reduziert die Vitamin-D-Produktion in der Haut. Menschen mit dunklerem Hauttyp benötigen daher länger in der Sonne, um die gleiche Menge Vitamin D zu produzieren.
- Ältere Menschen: Mit zunehmendem Alter nimmt die Fähigkeit der Haut, Vitamin D zu produzieren, ab.
- Personen, die aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen ihre Haut vollständig bedecken.
In diesen Fällen kann eine Supplementierung nach Rücksprache mit einem Arzt und idealerweise nach einer Bestimmung des Vitamin-D-Spiegels im Blut sinnvoll sein.
Die Gefahren einer Überdosierung
Während ein leichter bis moderater Vitamin-D-Mangel für gesunde Erwachsene meist keine akuten Gesundheitsrisiken birgt, kann eine Überdosierung durchaus gefährlich sein.
Vitamin D fördert die Calciumaufnahme im Darm und die Freisetzung von Calcium aus den Knochen. Bei übermäßiger Zufuhr kann es zu einem zu hohen Calciumspiegel im Blut (Hyperkalzämie) kommen. Symptome einer Vitamin-D-Überdosierung können Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit, Bauchkrämpfe, häufiges Wasserlassen und Durst sein. In schweren Fällen kann es zu Bewusstlosigkeit und sogar zum Tod kommen.
Besonders besorgniserregend sind Berichte über extreme Überdosierungen, wie sie etwa im Rahmen des sogenannten Coimbra-Protokolls vorkommen können. In einem dokumentierten Fall entwickelte ein 65-jähriger Patient ein akutes Nierenversagen, nachdem er über ein halbes Jahr täglich 60.000 IE Vitamin D3 eingenommen hatte.
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt für Nahrungsergänzungsmittel eine Tageshöchstmenge von 20 µg (800 IE) Vitamin D. Höhere Dosen sollten nur unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden.
Die VITAL-Studie: Ein Durchbruch in der Vitamin-D-Forschung
Ein wichtiger Meilenstein in der Vitamin-D-Forschung war die 2018 veröffentlichte VITAL-Studie. In dieser großen, randomisierten Studie erhielten rund 26.000 Teilnehmer entweder 2.000 IE Vitamin D pro Tag oder ein Placebo. Die Ergebnisse waren für viele Vitamin-D-Enthusiasten ernüchternd: Die Supplementierung führte weder zu einer signifikanten Reduktion von Krebs noch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Allerdings gibt es auch neuere Analysen, die etwas differenziertere Ergebnisse zeigen. So fand eine am Deutschen Krebsforschungszentrum durchgeführte Auswertung von 14 Studien der höchsten Qualitätsstufe mit insgesamt mehr als 50.000 Teilnehmern, dass eine tägliche Vitamin-D-Einnahme die Krebssterblichkeit um etwa 12 Prozent reduzieren könnte.
Regelmäßige mindproof Leser können sich sicher auch daran erinnern, dass eine brandneue Studie einen Zusammenhang zwischen Vitamin D Mangel und Typ-2-Diabetes aufzeigt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass die Forschung zu Vitamin D weiterhin im Fluss ist und sich unser Verständnis mit neuen Studienergebnissen weiterentwickelt.
Vitamin-D-Mangel: Wann solltest du wirklich besorgt sein?
Ein echter Vitamin-D-Mangel kann tatsächlich zu gesundheitlichen Problemen führen. Bei Kindern kann er Rachitis verursachen, eine Erkrankung, die zu Knochenverformungen führt. Bei Erwachsenen kann ein schwerer, langanhaltender Mangel zu Osteomalazie führen, einer Erweichung der Knochen.
Erste Anzeichen eines Vitamin-D-Mangels können sein:
- Müdigkeit und Erschöpfung
- Muskel- und Knochenschmerzen
- Häufige Infekte
- Depressive Verstimmungen
- Haarausfall
Bevor du jedoch zu Nahrungsergänzungsmitteln greifst, solltest du bei solchen Symptomen zunächst einen Arzt aufsuchen. Viele dieser Symptome können auch andere Ursachen haben.
Fazit: Ein ausgewogener Blick auf Vitamin D
Nach allem, was wir heute wissen, erscheint es sinnvoll, einen ausgewogenen Blick auf Vitamin D zu wahren:
- Natürliche Sonnenexposition nutzen: Versuche, regelmäßig Zeit im Freien zu verbringen, besonders in den Sommermonaten. Auch im Winter kann ein Spaziergang in der Mittagszeit hilfreich sein.
- Auf eine ausgewogene Ernährung achten: Integriere vitamin-D-reiche Lebensmittel wie fetten Fisch, Eier und angereicherte Produkte in deinen Speiseplan.
- Risikogruppen beachten: Wenn du zu einer der genannten Risikogruppen gehörst, sprich mit deinem Arzt über eine mögliche Supplementierung.
- Vorsicht bei Selbstmedikation: Vermeide es, auf eigene Faust hochdosierte Vitamin-D-Präparate einzunehmen. Eine Überdosierung kann gefährlich sein.
- Kritischer Blick auf Wunderwirkungen: Sei skeptisch gegenüber Aussagen, die Vitamin D als Allheilmittel darstellen. Die wissenschaftliche Evidenz für Wirkungen jenseits der Knochengesundheit ist oft nicht eindeutig.
Der Einfluss von Körperfett auf die Vitamin-D-Wirksamkeit, das Potenzial zur Senkung des Diabetesrisikos und die genauen Auswirkungen auf die Immunfunktion sind noch nicht vollständig geklärt und Gegenstand laufender Forschung.
Wie so oft in der Medizin und Ernährungswissenschaft gilt auch bei Vitamin D: Extreme Positionen sind selten richtig. Weder ist Vitamin D ein Wundermittel, das alle möglichen Krankheiten verhindert, noch ist ein leichter Mangel ein unmittelbarer Grund zur Panik. Ein gesunder Mittelweg, der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert und individuelle Risikofaktoren berücksichtigt, ist der beste Ansatz für deine Gesundheit.







